Eine städtische Bildungspolitik, die für viele ins Nichts führt

Wunsch und Wirklichkeit in der Offenbacher Bildungspolitik

Offenbach wächst. Offenbach baut. Was baut Offenbach? Mindestens ein weiteres Gymnasium. Warum braucht Offenbach ein (oder mehrere) neue Gymnasien? Antwort: Weil die Eltern das so wollen.

So lässt sich verkürzt die Stoßrichtung der aktuellen Offenbacher Bildungspolitik zusammenfassen. Man müsste noch ergänzen: Das Land Hessen setzt auf Gesamtschulen. Die Stadt Frankfurt setzt auf Gesamtschulen. Der Kreis Offenbach setzt auf Gesamtschulen. Die Stadt Offenbach baut weitere Gymnasien.

Das könnte eine gute Nachricht sein, denn vielleicht ist es ja so, dass sich in der Stadt Offenbach, die genauso stark wächst wie das benachbarte Frankfurt, in den letzten Jahren besonders viele strebsame, bildungsorientierte Familien niedergelassen haben, so dass die Stadt quasi mit einem zweiten Hugenotten-Wunder rechnen kann. Vielleicht ist es aber auch so, dass die zahlreichen Fördermaßnahmen, die sich die arme Stadt leistet, endlich zu messbaren Erfolgen geführt haben. So sehr letzteres zu hoffen wäre, so wenig Anzeichen gibt es bisher für eine solche Trendwende. Schaut man in den im Dezember 2021 veröffentlichten Bildungs- und Erziehungsbericht, so scheint, dass das Ausscheren von Offenbach eigentlich nur auf eine Ursache zurückzuführen ist: Die Eltern wollen es so!

Einführung des „Elternwunsches“ in Hessen (2014)

Dazu die Zahlen: In der Stadt Offenbach entscheiden sich, seit die Wahl der weiterführenden Schule von den Eltern getroffen wird (2014), 45% der Eltern dafür, ihr Kind auf ein Gymnasium zu schicken.1 Diese Zahl ist seit Einführung des „Elternwunsches“ 2014 in Offenbach relativ konstant, auch wenn sich die Zusammensetzung der Schülerschaft zwischen 2014 und 2021 weiter dahingehend verändert hat, dass inzwischen mehr als 70% der Offenbacher Schüler*Innen einen Migrationshintergrund aufweisen.2

Interessanterweise zeigt ein Blick in den „Erziehungs- und Bildungsbericht“ von 2013, dass die Einführung des „Elternwunsches“ (entgegen dem Empfinden vieler Lehrer*Innen) auf die Menge der am Gymnasium angemeldeten Schüler*Innen keinen Einfluss gehabt hat: Bereits vor Einführung des Gesetzes erhielten 45% der Schüler*Innen an den Offenbacher Grundschulen eine Empfehlung für den gymnasialen Bildungsgang.3 Leider gibt die Statistik nicht Auskunft darüber, ob und inwiefern sich die Zusammensetzung der aufs Gymnasium wechselnden Schülerschaft durch die Gesetzesreform inzwischen verändert hat. Lehrer*Innen der 5. und 6. Klassen klagen jedoch darüber, dass der Erziehungsaufwand mit jedem Jahr größer wird, was ein Hinweis darauf sein könnte, dass nun andere Kinder ans Gymnasium gelangen.

Versäumte Anpassung an die Bedürfnisse einer veränderten Schülerschaft

Fraglich ist auch, ob es lediglich der Armut der Kommune zuzuschreiben ist, dass Schulformen und Schulgebäude in den letzten 15 Jahren nur moderat den Bedürfnissen der neuen Schülergeneration angepasst wurden. So wurde der Aufbau weiterer Gesamtschulen in Offenbach erst spät unternommen (Ausbau von Mathildenschule und Geschwister-Scholl-Schule und Erweiterung der Edith-Stein-Schule, dagegen Beibehaltung von 3 Innenstadtgymnasien).

Stetig sinkende Abiturquote in Offenbach

2019 lag die Abiturquote in Offenbach bei ca. 29% (Hessen: 27,9%, Offenbach Stadt 28,9%), was im Wesentlichen dem hessischen Durchschnitt entspricht.4 Dies wirft die Frage auf, was eigentlich mit den 16% der Schüler*Innen eines Jahrgangs geschieht, die nach der Grundschule in den Bildungsgang Gymnasium wechseln, dort jedoch nicht den gewünschten Schulabschluss schaffen.

Bildungspolitische Entscheidungen ohne Einbeziehung der
Schulkommission

An dieser Stelle ist dem Stadtschulamt Offenbach ausdrücklich für sein Bildungs-Monitoring zu danken, denn mit den „Erziehungs- und Bildungsberichten“ der Jahre 2013, 2018 und 2021 lassen sich neuere Entwicklungen im Bildungssektor nun empirisch nachweisbar verfolgen. Leider werden einige der dort präsentierten Daten nicht kritisch genug von der Schulverwaltung interpretiert, denn nur so ist zu erklären, dass die Stadt Offenbach (entgegen dem oben beschriebenen Trend) weiterhin auf den Ausbau von Gymnasien setzt.

Hohe Quote an Wiederholern und Schulformwechslern

Die Ergebnisse des „Erziehungs- und Bildungsberichtes“ 2013 können jedenfalls nicht der Anlass für diese Richtungsentscheidung gewesen sein, denn dort ist eindeutig erfasst, dass die Abbrecherquote am Gymnasium in den Jahrgangsstufen 7 und 8 im Bezirk Offenbach ungewöhnlich hoch ist (2011/12: 7% gegenüber dem allgemeinen Trend in Hessen von 3%). 41 Schüler*Innen wechselten 2013 vom Gymnasium auf die Realschule, dies waren 44,5% aller Schulformwechsel in Offenbach. Darüber hinaus wird in der Studie von 2013 auch aufgeführt, wie viele Schüler*Innen in Offenbach ein Schuljahr wiederholen müssen. Auch hier liegen die Gymnasien mit 217 von insgesamt 406 Wiederholern deutlich vor allen anderen Schulformen (zum Vergleich: Die Zahl der Wiederholer an den IGSen betrug 22, an den Realschulen 32 Schüler*Innen).5

Gründe für bildungspolitische Entscheidung rätselhaft

Die oben genannten Zahlen ließen erwarten, dass die Stadt Offenbach mehr Schulplätze an Integrierten Gesamtschulen anbieten würde. Stattdessen plante die Stadt den Neubau von 2 (!) Gymnasien im Stadtgebiet. Politisch begründet wurde diese Entscheidung mit dem „Elternwunsch“, wobei die empirischen Daten zeigen, dass sich der Elternwunsch gar nicht signifikant verändert hat. Es ist also davon auszugehen, dass nach wie vor ein großer Teil der Elternschaft auf die Schulempfehlung der Lehrer*Innen vertraut.

Die Folgen für falsch eingestufte SchülerInnen

Doch wie wirkt sich eine falsche Einschätzung auf den weiteren Bildungsweg von Fünftklässlern aus? Ein Drittel von ihnen erreicht, wie wir gesehen haben, das Bildungsziel Abitur nicht, sondern schert vorzeitig aus. Leider wurde im Monitoring der letzten beiden Perioden darauf verzichtet, eine Wiederholerquote für die einzelnen Schulformen zu berechnen.6 Bis zum ersten Lockdown, nach dem auf Anweisung des Kultusministeriums vermehrt Schüler*Innen pädagogisch versetzt wurden, ist die Wiederholerquote am Gymnasium konstant hoch. Deutlich wird in den Erhebungen jedoch auch, dass die Zahl der Gymnasialschüler, die es in Offenbach in die Oberstufe schafft, seit 2016 um 15% zurückgegangen ist.7

Es lässt sich also feststellen, dass auf gleichbleibend hohe Anmeldezahlen ein Einbruch in der Abiturquote erfolgt ist. Hätte das Stadtschulamt diese Zahlen mit den Lehrerinnen und Lehrern der Stadt (zum Beispiel in der Schulkommission) besprochen, so hätte es erfahren, was sich im Unterrichtsalltag für Lehrer und Schüler in den letzten 7 Jahren verändert hat. Es wäre die Rede gewesen von Kolleg*Innen, die in den Jahrgangsstufen 5 und 6 jährlich mehr Kraft aufwenden müssen, um in ihren Klassen für die notwendigen Voraussetzungen für die Teilnahme am Unterricht zu sorgen. Es wäre die Rede gewesen, von Eltern, die aus den Beratungsangeboten der Schule aussteigen, wenn das Thema Schulformwechsel angesprochen wird. Und es wäre gesprochen worden über Teenager, die den Schulvormittag teilweise auf der Schultoilette verbringen, weil sie „Kopfschmerzen“ haben oder – in späteren Jahrgängen – einen Teil der Unterrichtszeit im Krankenstand zubringen. In einigen Fällen führt die tägliche Erfahrung von Überforderung zu Nervenzusammenbrüchen (mehr und mehr Schüler*Innen suchen Einrichtungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie auf), einige beginnen Drogen zu konsumieren, um sich dem Druck zu entziehen.

Löst Beratung das Problem?

Viele Eltern begegnen der Beratung von Fach- und Klassenlehrer*Innen (die inzwischen am Gymnasium verpflichtend ist und sehr aufwändig dokumentiert werden muss) mit der Moral säumiger Schuldner: Sie sind nicht ansprechbar, im Extremfall auch nicht auffindbar. Mit dieser Verzögerungstaktik landet das Kind dann manchmal doch in der Oberstufe, nur um dann festzustellen, dass das Notenbild nicht für einen Abschluss reichen wird.

Jugendliche in der Sackgasse

An diesem Punkt angekommen fühlt sich leider niemand mehr für diese Jugendlichen zuständig: Sie sind dann zu alt für den Wechsel an eine Realschule, mit der Versetzung in die 10. Klasse haben sie zwar einen Hauptschulabschluss, mit dem Beenden der 11. Klasse den Realschulabschluss – doch was nehmen diese Schüler aus ihren 6 – 8 Jahren am Gymnasium mit? Sie haben gelernt, passiv den Schulvormittag abzusitzen und bei drohender Gefahr in die „Krankheit“ abzutauchen. Ihre Kräfte reichen selten, um in attraktive Ausbildungsberufe zu wechseln, wurden doch zu Hause und in der Peer-Group über Jahre hinweg die Vorurteile gegenüber den anderen Bildungsgängen kultiviert. Studieren können diese jungen Leute nicht, für andere Berufe bringen sie kaum Leidenschaft mit. Wer nicht den Umweg über ein „Soziales Jahr“ wählt oder es schafft, an eine Fachoberschule zu wechseln, der landet früher oder später in der Berufsberatung beim Arbeitsamt. Was aber soll das Arbeitsamt mit jungen Menschen anfangen, die auch nach zweimaliger Wiederholung einer Klasse und dem vorzeitigen Ausscheiden aus der Oberstufe weiterhin davon träumen, Psychologie zu studieren? Wie sollen Jugendliche aufgefangen werden, deren formale Voraussetzungen alles andere als gut sind, aber die es für unter ihrer Würde halten, für Post und Bahn zu arbeiten?

S. Völpel, GEW Offenbach

1 Ploch / Heinzmann / Magistrat der Stadt Offenbach (Hg), Erziehung und Bildung in Offenbach. Bericht 2021, Dez. 2021, S. 34, Abbildung C 1.3.1 Übergangsquoten von der Grundschule an die weiterführende Schule 2016 - 2019

2 Ploch / Heinzmann / u.a. 2021, S. 31/32, Abbildungen C 1.2.1 und C 1.2.3

3 Magistrat der Stadt Offenbach (Hg.), Erziehung und Bildung in Offenbach. Bericht 2013, S. 36, Tabelle 1.2.3 Sozialindex und Gymnasialüberweisungsquote an Grundschulen 2012

4 Ploch / Heinzmann / u.a. 2021, S. 43 Abbildung C 1.8.5 Die Abgangsquoten 2019 – Kreisfreie Städte im Vergleich

5 Der Magistrat der Stadt Offenbach (Hg.) 2013, S. 38, Graphik C 1.3.1 Wiederholerquoten nach Schularten

6 Ploch / Heinzmann / u.a. 2021, S. 40, Graphik C 1.7.1 Entwicklung der Klassenwiederholungen nach
Schulformen

7 Ploch / Heinzmann / u.a. 2021, S. 35, Graphik C 1.3.4 Übergangsquoten