"Alles dafür tun" - Bildung und Gesundheit sind kein Gegensatz!

Offener Brief der GEW Stadt Offenbach zur Situation an Offenbacher Schulen unter Pandemiebedingungen

Sehr geehrter Herr Bouffier, sehr geehrter Herr Prof. Dr. Lorz, sehr geehrter Herr Klose,

 

wir als GEW-Kreisverband Offenbach-Stadt wenden uns heute an Sie, weil wir uns große Sorgen um die Infektionslage an den Offenbacher Schulen und um unsere Gesundheit machen.

Die Inzidenz liegt seit nunmehr fünf Wochen in der höchsten Warnstufe, seit zwei Wochen liegt sie in Offenbach-Stadt über 300.

Ungeachtet der Empfehlungen des RKI und der Tatsache, dass das örtliche Gesundheitsamt schon längst mit der Situation überfordert ist, findet der Unterricht an den Grundschulen und der Sekundarstufe I einfach weiter statt – in vollen Lerngruppen, ohne Abstand in überfüllten Schulgebäuden.

 

Die MNS-Pflicht ist ein wissenschaftlich erwiesen wirksamer Schutz und wir benötigen diese dringend. Trotzdem müssen wir feststellen, dass alle anderen Schutzmaßnahmen, die öffentlich sonst so beworben und als notwendig dargestellt werden, an Schulen wissentlich unberücksichtigt blieben. Immer wieder wird betont, dass die Einhaltung aller AHA-L-Regeln notwendig sei und die Maßnahmen erst in ihrer Kombination die gerade so notwendige Schutzwirkung erreichen können. Ungeachtet jeglicher Pandemielagen wird dies an den Schulen ignoriert.

 

Viele Verantwortliche behaupten immer wieder, Schüler:innen spielten keine Rolle im Infektionsgeschehen. Aber genau das ist nicht der Fall. Dass Schulen eine Rolle im Infektionsgeschehen spielen, ist aus internationalen Studien und den Statistiken des RKI bekannt, auch Expert*innen teilen diese Einschätzung und warnen davor, das Infektionsgeschehen an Schulen unkontrolliert laufen zu lassen.

 

Wir möchten Ihnen einen Einblick in die aktuellen Zustände an Offenbacher Schulen geben:

Wir beobachten seit den Herbstferien, dass Kontaktpersonen ersten Grades – seien es Eltern oder Schüler:innen – über mehrere Tage hinweg nicht mehr vom Gesundheitsamt kontaktiert werden. Wir erleben, dass Schüler:innen, die nach eigenen Angaben längeren Kontakt zu infizierten Mitschüler*innen hatten, nicht in Quarantäne geschickt werden. Manche Kontaktpersonen werden mit Verweis auf die Maskenpflicht kurzerhand von Kontaktperson 1 zu einer Kontaktperson 2 umdefiniert. Zwar sind Masken die einzige Schutzmaßnahme, die wir haben, sie reichen nach Einschätzung von Expert:innen als einzige Schutzmaßnahme aber nicht aus. Nach der neuesten Eltern-Information des Stadtgesundheitsamtes werden Schüler:Innen nicht mehr getestet. Wir bekommen mit, dass viele Schüler*innen krank sind, dass Schüler*innen auf die Quarantäneanordnung warten, die aber nicht kommt. In einigen Klassen gibt es in den Familien über Wochen hinweg immer wieder Fälle, dies wird aber ignoriert mit dem Verweis darauf, dass ja die Infektion bei den Eltern festgestellt wurde.

Manche Regelungen in den Hygieneplänen sind ganz und gar unpraktikabel, wie zum Beispiel das Essen auf dem Pausenhof ohne Tische und ohne ausreichend Bänke bei Kälte und Nässe.

Diese Zustände lassen uns mit großer Sorge um unsere eigene Gesundheit und die Gesundheit unserer Schüler*innen und ihrer Familien zurück.

Wir müssen unsere Bestürzung über diese politische Verfahrensweise zum Ausdruck bringen. Je mehr sich die Lage verschärft und je mehr die Bevölkerung zur Kontaktminimierung aufgerufen wird, desto weniger Schutzmaßnahmen werden an den Schulen realisiert. Dies hinterlässt bei uns völliges Unverständnis.

Seit einigen Monaten werden von Experten Möglichkeiten ins Spiel gebracht, Schulen zu schützen. Getan hat sich wenig: keine CO2-Ampeln, keine Lüftungsgeräte, keine Halbierung der Lerngruppen, keine festen Lerngruppen, weil doch immer irgendeine Ausnahme (Religionsunterricht, Fremdsprachenunterricht) diese verhindert, keine zusätzlichen technischen Endgeräte bislang.

 

Die aktuelle schulpolitische Steuerung hat gravierende Auswirkungen auf die Unterrichtsqualität. Verstehen Sie uns nicht falsch: Normalerweise sehen wir Präsenzunterricht natürlich als pädagogisch sinnvolle Form des Lernens und Lehrens. Und wir wollen auch keine komplette Schulschließung wie im März und April. Aber ein Unterrichten im Wechselmodell, bei dem die Schüler:innen tageweise in der Schule sind, ist pädagogisch gut zu organisieren.

Unter den jetzigen Bedingungen ist eine gute Beschulung nicht realisierbar, es ist zu riskant und die Unterrichtsqualität leidet unter den gegenwärtigen Bedingungen enorm.

  • Die MNS-Pflicht schützt und ist zweifelsfrei notwendig – und sie wäre es auch nach dem AHA-L-Prinzip noch bei reduzierten Lerngruppen. Trotzdem stellen sie in unserem Arbeitsalltag, in dem wir zurzeit keine Pausen mehr haben und viel vor großen Gruppen sprechen müssen, eine große Belastung dar. Viele Kolleg*innen verwenden gerade, weil es ihr einziger wirklicher Schutz ist, FFP2-Masken. Beim Tragen der FFP-2 Masken sind aber Pausen notwendig und gerade dazu haben die Kolleg:innen keine Möglichkeit.

  • Das Tragen der Masken ist wichtig. Aber es kostet Zeit, die Schüler:innen in die richtige Benutzung einzuweisen, sie zu erinnern und zu ermahnen, wenn die Masken unter die Nase rutschen, und sie über Wirksamkeit und Ungefährlichkeit von Masken aufzuklären. Da eine falsche Benutzung der Masken zu einer erhöhten, möglicherweise kritischen Aerosolbelastung führen würde und Mitschüler:innen und Lehrkräfte gefährden würde, ist diese Kommunikation wichtig, aber sie führt zu vielen Unterrichtsunterbrechungen.

  • Wir alle – Schüler*innen und Lehrkräfte - frieren durch das viele Lüften. Es gibt auch hier Probleme, an einigen Schulen droht schon der Ausfall der Heizungsanlagen.

  • Wir verstehen uns schlecht, müssen teils dreimal nachfragen, bis wir jüngere Schüler:innen verstehen, weil die Lärmbelastung bei geöffneten Fenstern in der Offenbacher Innenstadt enorm hoch ist.

  • Die Schüler:innen machen sich mit zunehmenden Inzidenzen auch Sorgen, viel Konzentration geht im Unterricht für coronatechnische Organisation verloren. So verbringen Klassenleitungen ein Wochenende damit, alle Eltern anzurufen und zu fragen, wo sie im Urlaub waren, die nächste Klassenleitungsstunde damit, zu fragen, wann die Schüler:innen wo welchen Bus nehmen, die nächste Deutschstunde damit, welche technischen Endgeräte die Schüler:innen zur Verfügung haben, die nächste Klassenleitungsstunde mit den neuesten Corona-Regeln, die nächste Woche damit, alle Kontaktdaten noch mal in eine Tabellenvorlage des Gesundheitsamts zu übertragen und die nächste Deutschstunde wieder mit den neuesten Corona-Regeln.

  • Alle Beteiligten sind noch mehr gestresst dadurch, dass es nahezu keine Entlastung hinsichtlich der Lehrpläne gibt. Das wäre aber angesichts der hohen Belastung und der prekären Unterrichtsbedingungen dringend notwendig.

  • Bislang kamen keine technischen Endgeräte bei bedürftigen Schüler:innen an.

  • Pädagogisch gibt es auch ein Dilemma: Man predigt den Schüler:innen die AHA-L-Regeln, weil die Lage so ernst sei. Nur in der Schule, da soll alles egal sein. Und auch die so nötige Maskenpflicht wird sehr uneinheitlich gehandhabt. Natürlich ist das für die Schüler:innen widersprüchlich und unverständlich.

 

Sie wollen alles dafür tun, dass die Schulen offenbleiben können – so heißt es immer.

Sie tun dafür aber wenig. Sie lassen die Schulen einfach so offen und lassen dem Virus freien Lauf. Wir begrüßen es, dass die Stadt Offenbach bereits wesentlich früher eine Maskenpflicht eingeführt hat und früher ein Wechselmodell für die Oberstufe beschlossen hat. „Alles dafür tun“ hieße aber, Geld in die Hand zu nehmen, die Bedingungen des Unterrichtens zu verbessern, den Arbeitsschutz so zu organisieren, dass Lehrkräfte wirklich an ihren Unterricht denken können anstatt in Daueranspannung und Angst um ihre Gesundheit ihren Arbeitsalltag irgendwie hinter sich bringen wollen.

 

Es schockiert uns, dass im Vergleich zu anderen Bereichen unserer Gesellschaft für die Schulen eine nahezu kostenneutrale Bewältigung der Pandemie geplant ist. Es drängt sich der Eindruck auf, es ginge bei der Öffnung der Schulen ausschließlich um die Verfügbarkeit der Eltern für den Arbeitsmarkt.

 

Oft kommt das Argument, es ginge um Chancengleichheit. Vor dem Hintergrund der selektiven Bildungspolitik der letzten Jahrzehnte, erscheint es uns nicht plausibel, dass nun die Gesundheit von Schüler:innen, Eltern und Lehrkräften gegen ein vermeintliches Ziel der Chancengleichheit ausgespielt wird.

Wenn es ihnen um Chancengleichheit ginge, würden sie die aktuell äußerst prekären Lernbedingungen an Schulen verbessern, dann würden Sie Schüler*innen mit den nötigen Endgeräten ausstatten, dann würden Sie die Pflichtstunden von Lehrkräften reduzieren, dann würden Sie gerade ärmere Kommunen unterstützen, dann würden Sie jetzt mehr Lehrerstellen für eine individuelle Unterstützung der Schüler:innen zur Verfügung stellen.

Aus pädagogischer Sicht ist es notwendig für Rahmenbedingungen zu sorgen, die wieder ein produktives und konzentrierteres Lernen ermöglichen. Bedingungen hierfür sind mehr Gesundheitsschutz und die Entlastung der Lehrkräfte, damit diese wieder ihrem pädagogischen Kerngeschäft, nämlich dem Unterrichten und Fördern von Schüler:innen, nachgehen können.

 

Wir fordern deshalb …

  • die Aktivierung der Stufe 3 für alle Jahrgangsstufen.

  • eine Halbierung der Lerngruppen in allen Jahrgangsstufen und Schulformen.

  • eine Entlastung des Lehrplans, damit wir in dieser außergewöhnlichen Situation die Schüler:innen individuell begleiten können und nicht auch noch unter dem Druck stehen, den Lehrplan wie normal abarbeiten zu müssen.

  • dass Chancengleichheit nicht durch reine Anwesenheit definiert wird, sondern dass Chancengleichheit ermöglicht wird durch zusätzliche Lehrerstellen und damit verbundene qualifizierte individuelle Betreuung.

  • eine Maskenpflicht auch im Unterricht.

 

Wir fordern Sie auf: Nehmen Sie Ihre Fürsorgepflicht wahr: im Interesse der Beschäftigten an den Schulen und der Schüler*innen und ihrer Familien.